Offener Brief

an die Tübinger Bundestags- und Landtagsabgeordneten,
die Gemeinderatsfraktionen, die Tübinger Stadtverwaltung
und das Schwäbische Tagblatt

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Vorkaufsrechte stärken – gegen Immobilienspekulation, hohe Mieten und Verdrängung!
Was tun Tübinger Abgeordnete, Gemeinderäte und Stadtverwaltung für den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum?
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Sehr geehrte Tübinger Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Gemeinderatsfraktionen und Vertreter:innen der Stadtverwaltung,

immer wieder müssen Tübinger Mieter:innen erleben, wie die Häuser, in denen sie wohnen, verkauft und als Spekulationsobjekt missbraucht werden. Die Folge sind Kündigungen, Sanierungen, Neuvermietungen zu viel höheren Mieten oder Weiterverkauf als Eigentumswohnungen. Die höheren Mieten bilden sich schließlich auch im Mietspiegel ab und führen zu weiteren steigenden Mieten in der ganzen Stadt. Immer mehr bezahlbarer Wohnraum wird vernichtet.

Der Verkauf des Gebäudes Ulrichstraße 24 / Eugenstraße 27 (Haus mit dem Bäcker Fischer) steht als erschreckendes, aktuelles Beispiel für solche Immobilienspekulation in Tübingen:
Im April diesen Jahres wurde das Haus von den Erb:innen für ca. 2,15 Millionen € verkauft an eine Investmentfirma. Diese hat das Gebäude umgehend aufgeteilt, die eine (!) Haushälfte wurde bereits im Oktober für 1,85 Millionen € erneut zum Kauf angeboten!

Vor dem ersten Verkauf im Frühjahr hatten die Mieter:innen Kontakt zur Stadtverwaltung aufgenommen, um eine Möglichkeit zu finden, das Haus vor Spekulation und steigenden Mieten zu retten. Die Erb:innen lehnten es aber ab, das Haus so zu verkaufen, dass die neu gegründete städtische Dachgenossenschaft sich hätte einbringen können.

Es ist skandalös, dass es keine wirksamen kommunalen Instrumente gibt, um gegen Immobilienspekulation und Mietenwahnsinn beim Verkauf von privaten Mietshäusern vorzugehen!

In anderen Städten bestehen zumindest Vorkaufsrechte der Kommune gegen solche spekulativen Hausverkäufe. Diese Städte haben sogenannte Millieuschutzsatzungen/soziale Erhaltungssatzungen auf Grundlage des Baugesetzbuches §§ 172 ff. erlassen. Die drei Schutzziele, die die Aufstellung einer Erhaltungssatzung rechtfertigen, sind die Erhaltung der städtebaulichen Eigenart eines Gebiets auf Grund seiner städtebaulichen Gestalt, der sogenannte Milieuschutz (Erhalt der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung) oder die Unterstützung städtebaulicher Umstrukturierungen.

Zudem hat im Juni 2021 die Bundesregierung das Baulandmobilisierungsgesetz beschlossen. Es soll neben der Verfügbarmachung von Bauland auch die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen erschweren und sieht ebenfalls ein Vorkaufsrecht vor (1). Dieses Gesetz muss von den Bundesländern umgesetzt werden. In Baden-Württemberg ist das noch nicht geschehen (2).

Erschwerend für die Umsetzung von Vorkaufsrechten kommt aktuell hinzu, dass das Bundesverwaltungsgericht im November die in Berlin übliche Vorkaufsrechtspraxis von Grundstücken im Rahmen des Milieuschutzes in Teilen gekippt hat (3).

Mit einem gültigen, wirksamen städtischen Vorkaufsrecht wäre es im Fall des Hauses Ulrichstraße 24 / Eugenstraße 27 möglich gewesen, das Haus mit der Tübinger Dachgenossenschaft zu bezahlbaren Mieten dauerhaft zu sichern!

Um sich gegen Spekulation und Mietenwahnsinn zu wehren, brauchen Kommunen – neben anderen Instrumenten – auch die Möglichkeit des Vorkaufsrechts!

Als Wohnraumbündnis Tübingen schließen wir uns daher den Forderungen von bundesweiten Mieterinitiativen an (4):

  • Schaffung einer sicheren Rechtsgrundlage für die Ausübung des Vorkaufsrechts im Baugesetzbuch
  • Erarbeitung einer Zwischenlösung für Häuser in Erhaltungsgebieten, die verkauft werden, bevor ein solches Gesetz besteht; Gewährleistung der Einhaltung der bereits geschlossenen Abwendungsvereinbarungen und Erarbeitung einer Zwischenlösung für klageanhängige Vorkaufsfälle

Von den Tübinger Bundes- und Landtagsabgeordneten sowie den Gemeinderatsfraktionen und der Stadtverwaltung möchten wir gerne wissen:

  • Wie setzen Sie sich auf Bundesebene für eine Neufassung des Vorkaufsrechts ein?
  • Was tun Sie für die Umsetzung des Baulandmobilisierungsgesetzes auf Landesebene – inklusive Vorkaufsrechten für Kommunen?
  • Wie setzen Sie sich für die Einrichtung von Erhaltungssatzungen/Milieuschutzgebieten in Tübingen mit Vorkaufsrechten ein?

Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der Wohnen kein Luxus ist, sondern ein bezahlbares Grundgut, an dem alle Menschen teilhaben können – und nicht abgehängt und verdrängt werden. Wir erwarten, dass Politik und Verwaltung jetzt schnell und entschlossen handeln. Was tun Sie dafür?

Wohnraumbündnis Tübingen, 10.12.2021

Links:
(1) Erhaltungssatzung
https://de.wikipedia.org/wiki/Erhaltungssatzung
(2) Baulandmobilisierungsgesetz: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/05/baulandmobilisierung.html
(3) Anfrage zur Umsetzung des Baulandmobilisierungsgesetzes in BaWü:
https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP17/Drucksachen/0000/17_0604_D.pdf
(4) Vorkaufsrecht gekippt
https://taz.de/Gerichtsentscheidung-zum-Vorkaufsrecht/!5814462/
(5) Forderungen von Mieterinitiativen
https://taz.de/Berliner-Mieterinitiativen/!5813998/