Rede Wohnraumbündnis zum Protestspaziergang gegen Wohnungsnot 23.10.2015, Tübingen:

Liebe Freundinnen und Freunde,

nur in drei Städten Deutschlands lebt es sich laut Mietspiegelindex von 2014 Jahr teurer als in Tübingen. Im Schnitt zahlt man in Tübingen für eine Zweizimmer-Wohnung mittlerweile etwa 10€ pro Quadratmeter. Konkret bedeutet das, dass immer mehr Menschen knapp die Hälfte des Geldes das ihnen im Monat zur Verfügung steht für die Miete ausgeben müssen.

Gerade jetzt zum Semesteranfang zeigt sich wie schwer es ist eine bezahlbare Wohnung in Tübingen zu finden. Bereits im letzten Jahr war das Studierendenwerk verzweifelt auf der Suche nach freien WG-Sofas. Und auch in diesem Semester sind alle Wohnheimsplätze längst belegt und etwa 1600 Studierende stehen auf der Warteliste. Bundesweit wären laut dem deutschem Studentenwerk mindestens 25.000 weitere Wohnheimsplätze nötig um nur die größte Wohnungsnot zu bekämpfen.

Immobilienbesitzer und Vermieter können es sich in Tübingen mittlerweile erlauben für das dreckigste Kellerloch extrem hohe Mieten zu verlangen und niemand scheint die weiteren Mietsteigerungen aufhalten zu können. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Als WG hatten wir einen Zeitmietvertrag für ein Haus in der Tübinger Altstadt. Der Vermieter hat uns mündlich immer wieder versichert, dass wir mehrere Jahre dort wohnen dürfen. Wenige Tage vor Ablauf des Vertrags hat er uns offenbart, dass kein weiterer Vertrag aufgesetzt wird. Beim Mieterbund durften wir dann erfahren, dass der Vermieter schon einmal eine ähnliche Masche abgezogen hat und die Miete im Vorjahr knapp halb so hoch war. Für den Vermieter ist das ganze eine einfache Möglichkeit das Haus in Schuss zu halten und die Miete nach belieben Jahr für Jahr zu erhöhen. Wie viele andere hat es mich und meine WG mittlerweile in einen Tübinger Vorort verschlagen, schlicht weil es hier zu wenig günstigen Wohnraum gibt.

Aber die Wohnungsnot trifft nicht nur Studierende. Das Schwäbische Tagblatt berichtete vor einigen Wochen von einem alleinerziehenden Vater der keine Wohnung für sich und seine Söhne findet. Von Vermietern bekam er u.a. zu hören, dass sie keine Alleinerziehenden oder Leute die bei ALDI einkaufen im Haus haben wollen. All das sind keine Einzelfälle. Der Tübinger Wohnungsmarkt ist speziell auf die zahlungskräftigen, jungen Familien und die gutverdienenden Singles zugeschnitten. Insbesondere Menschen in schlecht bezahlten Jobs, Erwerbslose, Migrant_innen, Alleinerziehende und Jugendliche haben kaum eine Chance bezahlbaren Wohnraum zu finden. Und für Geflüchtete bleibt oft nur die Kasernierung in teils menschenunwürdigen Sammelunterkünften.
Aber nicht der Zuzug der Besserverdienenden ist der Grund für steigende Mieten, sondern die Jagd nach Profit. Die private Verwertung von Grundstücken und Wohnraum ist es, die die Immobilien- und Mietpreise in die Höhe treibt. Immobilien sind seit Beginn der Finanzkrise für Kapitalanleger besonders interessant geworden. Die Renditen und entsprechend auch die Mietpreise sind da besonders hoch, wo das Wohnen aufgrund sozialer, räumlicher und kultureller Strukturen besonders attraktiv ist – wie z.B. in Tübingen.

Hinzu kommt, dass als Teil dieser Entwicklung seit den 90er Jahren preisgünstiger städtischer Wohnraum in großem Ausmaß privatisiert und gleichzeitig der Bau von Sozialwohnungen massiv vernachlässigt wurde. Deren Anzahl hat sich in Tübingen in den letzten zehn Jahren etwa halbiert (auf derzeit etwas über 1.000) und sie wird trotz Zubau weiter sinken, weil viele ältere Wohnungen aus der Sozialbindung heraus fallen.
Beinahe 500 Wohnberechtigten-Scheine werden in Tübingen jedes Jahr vergeben, gleichzeitig gehen rund 300 Antragssteller_innen leer aus. Während die Wohnungsnot also unübersehbar ist, bis hin zu steigender Obdachlosigkeit, und die Mieten weiter drastisch steigen, hat Tübingen die zweit höchste Leerstandsquote in Baden-Württemberg: Es stehen in der Stadt ca. 450 Wohnungen dauerhaft leer.

Auch wenn die Freunde des freien Marktes in Politik und Wirtschaft nicht müde werden, das Gegenteil zu behaupten: Das organisierte private Gewinnstreben sorgt nicht für guten und günstigen Wohnraum für alle, sondern es sorgt genau für das, was wir seit Jahren erleben. Ein menschliches Grundbedürfnis wird zum Spekulationsobjekt und die Zahl der Verlierer_innen bei der gnadenlosen Jagd nach Profit wächst rasant. Guter und günstiger Wohnraum wird also nicht von selbst entstehen – wir müssen ihn erkämpfen. In Tübingen gibt es eine lange Geschichte von Selbsthilfe, von Besetzungen, von Wohnprojekten, die erstritten und in Eigeninitiative umgesetzt wurden. Das Tübinger Bündnis gegen Wohnungsnot hat sich im Sommer diesen Jahres gegründet um an diese Tradition anzuknüpfen und bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen. Der Protestspaziergang heute soll ein Auftakt dafür sein. Wenn wir aber letztlich wollen, dass sich Wohnraum und Städteplanung an menschlichen Bedürfnissen statt privaten Profit orientiert brauchen wir einen langen Atem und viele Mitstreiter. Wir laden euch daher herzlich ein sich in unserem Bündnis zu engagieren. Und damit unser Traum von bezahlbaren Wohnraum für alle keine Utopie bleibt machen wir hier und heute schon ernst und stellen Forderungen auf für die es sich zu kämpfen lohnt.

Wir fordern deshalb:

– Stopp der Privatisierung von Wohnraum – stattdessen Rekommunalisierung, Vergesellschaftung und Eigentumsneutralisierung

– Schluss mit den Mietsteigerungen

– Mehr sozialen Wohnungsbau mit einer Mietpreisbindung von 20 Jahren oder mehr

– Mehr und billigerer Wohnraum, z.B. in Form von Wohnheimen

– Recht auf würdige Wohnbedingungen für Geflüchtete, keine Sammelunterbringung

– Sofortige Einführung des sogenannten „Zweckentfremdungsverbots“

– Schaffung von Wohnungs-Belegungsrechten für Geringverdiener_innen